FRONTIER-Projekt "Schreiben im Holocaust"

Die deutschsprachigen Chronisten und Getto-Autoren

 

Alice Chana de Buton (05. Januar 1901 in Berlin – vermutlich August 1944 in Auschwitz)
1921 zog de Buton nach Wien und erhielt die österreichische Staatsbürgerschaft. Dort arbeitete sie nach eigenen Angaben als ‚Privatbeamtin‘, ‚preisgekrönte Sekretärin‘¹⁵. Am 16. Oktober 1941 wurde sie mit dem ersten Wiener Transport nach Lodz deportiert. Im Getto war de Buton die einzige weibliche Chronistin des Archivs „in der Funktion einer selbständigen Korrespondentin-Maschinistin“¹⁶. Sie verfasste mehrere Gedichte und Feuilletons, die im fünften Band der Getto-Chronik Lodz/Litzmannstadt veröffentlicht sind. Im August 1944 wurde de Buton mit einem der letzten Transporte nach Auschwitz verschleppt. Dort verliert sich ihre Spur.¹⁷

 

 

Bernhard Heilig (21. September 1902 in Prossnitz – 29. Juni 1943 in Lodz/Litzmannstadt)
Heilig war der einzige Industrielle unter den deutschsprachigen Chronikautoren. Nach dem Studium der Nationalökonomie in Nürnberg und Basel promovierte er 1927 zum Doktor der Staatswissenschaften. Bekannt ist, dass Heilig nach dieser Zeit in Paris lebte. Im September 1930 zog er nach Wien, später lebte er in Prag. Von dort wurde er am 21. Oktober 1941 nach Lodz deportiert. In der Zeit zwischen Februar 1942 und Juni 1943 arbeitete er im Archiv. Am 29. Juni 1943 starb Heilig an den Folgen einer Tuberkulose.¹⁸ Wie über jedes wichtige Ereignis im Getto, so wird auch über seinen Tod in einem Nachruf berichtet.

„Mit Dr. Bernard Heilig hat unsere Abteilung – nach Cukier-Cerski und Dr. A. S. Kamieniecki – im Verlauf des heurigen Jahres den dritten Mitarbeiter verloren. Der Verlust ist umso schwerer, als Dr. Heilig zu den wenigen volkswirtschaftlichen Fachleuten gehoerte, die sich mit der oekonomischen Geschichte der Juden beschaeftigten und gleichzeitig auch statistische Arbeiten leisteten. In unserer Abteilung beschaeftigte sich der Verstorbene u. a. mit dem Schicksal der hierher eingesiedelten Juden des Westens und lieferte aeusserst aufschlussreiche statistische Tabellen. Da unser Arbeitssystem derart eingerichtet ist, dass das Gebiet jedes Einzelnen sich organisch an das seines Kollegen anschliesst, ist durch das Hinscheiden Dr. Heiligs eine Luecke entstanden, die nur schwer ausgefuellt werden kann. (…) Dr. Heilig ist, nachdem er schon infolge der katastrophalen Lage im Kollektiv an seiner Gesundheit schwer geschaedigt war und infolgedessen haeufig kraenkelte, im Maerz 1943 schwer erkrankt. Die Unterernaehrung hatte eine Tuberkulose zur Folge, obwohl seine Gattin Vera Heilig heldenmuetig um das Leben ihres Mannes kaempfte und alles opferte, was ueberhaupt noch zu opfern war, war das Schicksal, wie das hier im Getto nicht anders denkbar ist, leider nicht aufzuhalten. Wir haben unseren Kollegen Dr. B. Heilig heute, Mittwoch, den 30. Juni, in aller Stille zur Ruhe gebettet. Ehre seinem Angedenken.“¹⁹

Erhalten geblieben sind zahlreiche wirtschaftsgeschichtliche und sozialökonomische Texte von Heilig, die er u.a. in der Brünner Zeitschrift des deutschen Vereines für die Geschichte Mährens und Schlesiens und im Jahrbuch der Gesellschaft für Geschichte der Juden in der Čechoslovakischen Republik in Prag publizierte. Die neuesten Recherchen ergaben, dass der Chronist in den Jahren 1934-35, ähnlich wie Singer und Wertheimer, für die jüdische Prager Zeitschrift Selbstwehr tätig war.

 

 

Oskar Rosenfeld (13. Mai 1885 in Koryčany – vermutlich August 1944 in Auschwitz)

5Nach dem Abitur zog Rosenfeld nach Wien, um dort Kunstgeschichte und Philologie zu studieren. Im Anschluss an die Promotion zum Dr. phil. 1908 verschrieb sich der spätere Chronist seinem literarischen Interesse und veröffentlichte zahlreiche Literatur-, Kunst- und Theaterkritiken sowie feuilletonistische Kommentare. Außerdem übersetzte er Werke anderer Autoren u.a. aus dem Französischen und Jiddischen. Schon seit 1904 gab Rosenfeld eine eigene jüdische Studentenzeitschrift mit dem Titel Unsere Hoffnung heraus. Später publizierte er u. a. in Der Welt und in der Jüdischen Volksstimme. In den Jahren 1923 bis 1927 war er Redakteur der zionistischen Wiener Morgenzeitung, und zwischen 1929 und 1938 der Wochenzeitschrift Die neue Welt. 1909 gründete der Zionist und Schriftsteller zusammen mit Hugo Zuckermann und Adolf Stand das erste jüdische Theater in Wien, die Jüdische Bühne, und 1927 sein eigenes Theater Jüdische Künstlerspiele. Außer Reportagen und Artikeln schrieb Rosenfeld auch Prosatexte, wie z.B. den Roman Die vierte Galerie, in dem er das künstlerische Bohème-Leben des jüdischen Wiens beschreibt, oder die unter dem Sammeltitel Tage und Nächte erschienenen Novellen. Sowohl in den Presseartikeln als auch in seinen Prosawerken engagierte sich Rosenfeld stets für die Pflege einer nationalen jüdischen Kultur. So war es vor allem dieses Thema, das er in den zahlreichen Vorträgen behandelte, die er zwischen 1925 und 1938 in Wien hielt. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich emigrierte Rosenfeld nach Prag, von wo aus er für die Londoner Zeitung The Jewish Chronicle schrieb. Die jüngsten Recherchen ergaben, dass Rosenfeld in seiner Prager Zeit in dem von Singer redigierten Jüdischen Nachrichtenblatt publizierte: Erhalten geblieben sind mehrere Texte, in denen der Journalist zu der gegenwärtigen Situation der jüdischen Auswanderer aus der ganzen Welt Stellung nahm. Am 4. November 1941 wurde Rosenfeld zusammen mit 5000 weiteren Juden nach Lodz deportiert. Im Getto Litzmannstadt zählte er seit Mitte 1942 zu den wichtigsten Mitarbeitern des Archivs. Im August 1944 wurde Rosenfeld nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.²⁰

 

 

Oskar Singer (24. Februar 1893 in Ustron – vermutlich 31. Dezember 1944 in Kaufering)

6Singer war Jurist und promovierte am 3. Juni 1919 in Wien. Später schrieb er als Journalist für verschiedene Zeitschriften wie das Prager Tagblatt, den Prager Montag und die Selbstwehr. 1939 wurde er Redakteur des Jüdischen Nachrichtenblattes. Schon früh bekannte sich Singer als entschiedener Gegner des Nationalsozialismus. Dies zeigt sich u. a. in seinem Drama Herren der Welt. Zeitstück in drei Akten, das 1935 erschien und von Rosenfeld, seinem künftigen Mitarbeiter und Kollegen, in der Neuen Welt enthusiastisch gelobt wurde:

Jüdisches Kulturtheater …

Oskar Singer. Herren der Welt. Zeitstück in drei Akten. Refta-Verlag Prag-Wien-Zürich. Ein Problem, das jeden ethisch empfindenden Menschen, vornehmlich jeden Juden zu erschüttern, vermag, nämlich das Schicksal der deutschen Judenheit, kann vielfach dargestellt werden. Die dramatische Form hat den Vorzug wirklichkeitsnaher Wirkung, unmittelbarer Lebendigkeit. Oskar Singers Zeitstück konfrontiert die einzelnen Typen im heutigen Deutschland miteinander und bringt so wuchtige Szenen und den Zusammenprall magischer Kräfte zustande, die in jedem echten Theaterstück wirken. Das Martyrium des jüdischen Menschen im heutigen Deutschland wird als Zeuge sinnloser Barbarei aufgerufen. Man soll die „Herren der Welt“ spielen. Sie sind echt in der Leidenschaft und auch architektonisch gelungen. In Prag hat eine junge jüdische Bühne mit den „Herren der Welt“ Oskar Singers t[i]efste Wirkung erzielt. Für das Wiener Jüdische Kulturtheater sähe ich hier eine Aufgabe. o. r.

[In: Die Neue Welt, 15.11.1935, S. 7]

Am 26. Oktober 1941 wurde Singer zusammen mit seiner Familie nach Lodz deportiert. Im Getto Lodz/Litzmannstadt übernahm er nach dem Tod seines polnischen Vorgängers Julian Cukier-Cerski am 7. April 1943 die Rolle des Hauptchronisten. Von diesem Moment an wurde die Chronik fast ausschließlich in deutscher Sprache verfasst und später durch feuilletonistische Texte, Skizzen des Kleinen Getto-Spiegels sowie die Kolumne Man hört, man spricht angereichert. Singers Sekretärin Lucille Eichengreen charakterisiert ihn als stets „[e]in wenig rastlos, immer auf der Suche nach Neuigkeiten und Informanten.“²¹ Erhalten geblieben sind aus der Gettozeit Reportagen und Berichte, die in dem 2002 erschienen Band Im Eilschritt durch den Gettotag veröffentlicht wurden.²² Der Chronist wurde im August 1944 nach Auschwitz deportiert. Von dort aus wurde er vermutlich über die KZ Sachsenhausen und Dachau in das Dachauer Außenlager Kaufering verschleppt, wo er am 31.12.1944 ums Leben kam.²³

 

 

Peter Wertheimer (11. Februar 1890 in Pardubice – vermutlich 1944 in Auschwitz)

7Über Peter Wertheimer, den fünften Chronisten, ist bislang nur wenig bekannt. Man weiß, dass er studierte – wann und wo ist unbekannt – und zum Dr. phil promovierte. Vermutlich lebte Wertheimer bis Anfang 1927 in Berlin, danach in Prag. Die neuesten Recherchen ergaben, dass er 1933 eine mit Wirtschafts-Umschau betitelte Rubrik in der Prager Selbstwehr leitete, in der er laufend die deutsche Wirtschaftslage kommentierte. Auch Wertheimer wurde von Prag nach Lodz deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet.²⁴

Einen Eindruck vom journalistischen Schaffen Wertheimers gibt der nachfolgend zitierte Artikel aus der Selbstwehr von 1935:

Hokus – Pokus

Auf der Bühne des Varietés steht ein schäbigeleganter Herr und zeigt dem verehrlichten Publikum einen leeren, absolut leeren Zylinderhut. Dann – Hokus-pokus – zaubert er aus dieser Leere Hühner, Eier, gar ein lebendes armes Karnickel, lauter nahrhafte, wirkliche, echte greifbare Sachen, um am Schluß eine riesenhafte Flagge herauszuziehen in den jeweiligen Staatsfarben, zur Apotheose und Verblüffung des Vorstadtpublikums. Und doch, niemand – es sei denn gläubige Kinder – denkt auch nur einen Augenblick daran, daß alle diese schönen Dinge aus dem leeren Zylinderhut gekommen, ohne daß sie vorher von wo anders hineingepascht worden wären.

In den Konferenzsälen verschiedenster Nationalbanken sitzen Zauberer – verlegene Zauberer – und üben denselben Trick: sie schöpfen Geld, sie weiten Kredit aus, von nirgends her, - sie verdünnen das Schmiermittel der heißgelaufenen Wirtschaftsmaschine. Und es finden sich kluge Männer, verschlagene Praktiker, die Unerfahrenen weismachen wollen, daß in Kürze die brave Maschine wieder flott laufen wird.

Es genügt die Kenntnis des kleinen Einmal-Eins dazu, um zu wissen, daß Geld […] nicht geschöpft und nicht geweitet werden kann, sondern nur erarbeitet – oder abgeschöpft, d. h. von dort genommen, wo sie ist.

Nun wird der Praktiker sagen, das ist kein Unglück; es wird von dort genommen, wo es in Ueberfluß ist, und kommt dahin, wo es fehlt. […]

Das Problematische an diesem Prozeß ist, daß er sich nur zwischen Gläubiger und Schuldner abspielt und die nicht einbezieht, die keines von beiden sind. Und ein immer wichtigerer Faktor der Gesamtwirtschaft werden: die Arbeitenden und die Arbeitslosen.

Denn die Devaluation […] ist eigentlich nichts anderes, als die Deklarierung eines bereits bestehenden wirtschaftlichen Zustandes. Das heißt, der Tatsache der Uneintreibbarkeit von Forderungen, der Notwendigkeit des Akkords. Was sonst kleingedruckt unter Insolvenzen und Ausgleichen zu finden ist, paradiert in großartigen Sätzen und Lettern im Leitartikel.

Jeder Ausgleich bedeutet eine Erleichterung des Schuldners – und auch der Gläubiger findet sich meist mit ihm ab, hofft er durch normale Geschäftsbeziehung die Verluste wettzumachen und darüber hinaus zu verdienen. Was geschieht aber mit denen, die außerhalb dieser Wechselbeziehung stehen – die Festentlohnten und die Arbeitslosen, deren Kaufkraft, zumindest vorübergehend, perzentuell die gleiche Einbuße erleidet, wie die der Besitzer von Geld oder Forderungen?

Auf diese Frage pflegt die Antwort zu kommen, daß durch das Ingangsetzen der Wirtschaft Arbeitslose in den Produktionsprozeß einbezogen werden, der Umlauf erhöht wird und die Angleichung des Reallohnes erfolgt. Wenn aber die Wirtschaft nur von der finanziellen Seite saniert wird, so sind die Ursachen, warum sie versagte, nicht behoben. Die Buchhaltung ist in Ordnung gebracht – eine neue Rechnungsperiode eröffnet, aber die Unwirtschaft in Produktion und Verteilung wird den Bilanzierenden nächstes Jahr vor dieselben, vielleicht nur quantitativ verschiedenen Probleme stellen. […] Dr. Peter Wertheimer.

[In: Selbstwehr, 16.06.1933, S. 5.]

Letzte Änderung: 23.05.2018
zum Seitenanfang/up