FRONTIER-Projekt „Schreiben im Holocaust“

 

Sprachwissenschaftliches Interesse und Stand der Forschung

Die deutschsprachigen Texte der Deportierten werden in einem nächsten Schritt exemplarisch ausgewertet. Ihre Existenz und der spezifische Sprachgebrauch ihrer Verfasser werden als Form des sprachlichen Widerstandes gedeutet. Erste Studien haben anhand zahlreicher Beispiele bereits gezeigt, dass der Sprachgebrauch der Chronisten im bewussten Gegensatz zur Sprache der Nationalsozialisten steht. Dass es sich hierbei um einen intentional gewählten Sprachgebrauch handelt, kann gerade durch eine Gegenüberstellung mit den Vorkriegstexten der Gettoautoren Alice Chana de Buton, Bernhard Heilig, Oskar Rosenfeld, Oskar Singer und Peter Wertheimer, sowie mit dem öffentlichen Sprachgebrauch der Nationalsozialisten nachgewiesen werden. Denn vor dem Krieg enthalten die journalistischen und belletristischen Texte der Chronisten kaum Abweichungen von der Duden-Norm, wohingegen in der Schreibsituation des Gettos gerade der Rückgriff auf südostdeutsch-österreichisch-prager Varianten charakteristisch ist. Interpretiert werden kann dies einerseits als Entwurf einer Gegenrealität bzw. als Akt der Anknüpfung an eine bereits untergegangene Welt, andererseits als bewusst gewählte Strategie der Abgrenzung von der Sprache der Täter. Dabei bleibt zu betonen, dass der sprachliche Orientierungspunkt auch zur Zeit des Gettos stets das Deutsche war.

Das Thema „Schreiben im Holocaust“ ist Bestandteil des Forschungsfeldes „Sprache in der Zeit des Nationalsozialismus“. Der Sprachgebrauch innerhalb der NSDAP und der öffentliche Sprachgebrauch in der Zeit zwischen 1933 und 1945 sind heute gut untersucht. So notwendig und wichtig diese Arbeiten zur „Sprache des Nationalsozialismus“ auch waren, so haben sie doch das Augenmerk fast ausschließlich auf die Täter und ihren Sprachgebrauch gelenkt. Es kommt deshalb zu der paradoxen Situation, dass die Perspektive der Opfer in der deutschen germanistischen Forschung so gut wie gar nicht vorkommt, die maßgeblichen Standardwerke nennen sie nicht. Die Opferperspektive wird bisher vor allem in Veröffentlichungen der polnischen Sprachwissenschaft thematisiert, insbesondere in Publikationen aus dem Umfeld des „Krakauer Auschwitz-Wörterbuchs“. Auch wurde in der germanistischen Forschung bisher weder der Versuch unternommen, die komplette Sprachlandschaft eines Gettos zu rekonstruieren, noch die sprachlichen Merkmale der Gettotexte durch den direkten Vergleich mit den Vorkriegspublikationen ihrer Autoren zu ermitteln. Einige wenige neuere Arbeiten zur Sprache und den sprachlichen Traditionen Franz Kafkas und seiner Familie bzw. zum Deutschen in Prag geben einen Rahmen für die Untersuchung der Vorkriegstexte der Getto-Autoren. Dies ermöglichen auch die bisher noch nicht allgemein anerkannten Schlussfolgerungen Anne Bettens, die in Interviews mit deutschen Palästina-Auswanderern deutliche Spuren einer von ihr als „Weimarer Deutsch“ bezeichneten bildungsbürgerlichen Sprachform gefunden hat, die mit dem Holocaust untergegangen ist.

„Der schleichende Untergang des ‚Weimarer Deutsch‘ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, an dessen Stelle inzwischen ein durch Amerikanismen und Medien neu geprägtes Deutsch der Gegenwart getreten ist, das man als ‚Spätneuhochdeutsch‘ bezeichnen kann, beginnt in der Zeit des Nationalsozialismus und ist daher nicht zuletzt auch ein Resultat des Holocaust. Für keine gesellschaftliche Gruppe war die Sprache auch nur annähernd so wichtig wie für die Gruppe der deutschen Juden. Ihr richtiger Gebrauch war ein wesentliches Merkmal der Emanzipation und Assimilation. Das von europäischer Mehrsprachigkeit geprägte ‚Weimarer Deutsch‘ des deutschen Bürgertums lebt in Texten wie der Chronik des Gettos Litzmannstadt weiter.“

Der Forschung fehlte es für eine Untersuchung der „Sprache der Opfer“ bislang an einer geeigneten deutschsprachigen Textgrundlage, die durch die Edition der Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt und die in diesem Projekt zusammengetragenen Texte der Gettoautoren nun vorliegt.

Letzte Änderung: 26.06.2012
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