Katalog: Deutschsprachige Zeitungen im östlichen Europa

 

 

Jörg Riecke und Tina Theobald

Deutschsprachige Zeitungen im östlichen Europa. Katalog (Heidelberg 2012)  

 

 

 

 

Vorwort

Zu Elias Canettis frühesten Rustschuker Kindheitseindrücken gehört die Erinnerung an seinen in eine Zeitung vertieften Vater: „… der Vater las täglich die „Neue Freie Presse“, es war ein großer Augenblick, wenn er sie langsam auseinanderfaltete. Sobald er sie zu lesen begonnen hatte, hatte er kein Auge mehr für mich, ich wußte, daß er dann auf keinen Fall antwortete, auch die Mutter fragte ihn dann nichts, nicht einmal auf deutsch. […] Ich wußte, daß die Zeitung aus Wien kam, das war weit weg, vier Tage fuhr man hin auf der Donau.“1

In Rustschuk (heute Russe) an der Donau wurden bei der ersten bulgarischen Volkszählung 1883 zwar 476 deutsche Einwohner gezählt,2 und in Elias Canettis Geburtsjahr 1905 gab es bereits eine deutsche Privatschule. Aber damit war die Hafenstadt auch in der Blütezeit der deutschen Ostsiedlung am Anfang des 20. Jahrhunderts kein Zentrum einer deutschsprachigen Minderheit, und auch die aus sephardischen Familien stammenden Eltern Canettis hatten Deutsch erst während ihrer Schulzeit in Wien gelernt. Eine eigene Rustschuker deutschsprachige Zeitung dürfte daher wohl zu wenige Abnehmer gefunden haben. Hätte die Familie Canetti allerdings statt in Rustschuk in der etwa 280 Kilometer entfernten Hauptstadt Sofia gelebt, so hätte ihnen beispielsweise mit der „Bulgarischen Handelszeitung“ eine deutschsprachige Zeitung zur Verfügung gestanden, die in Bulgarien selbst erschien. Im näher gelegenen, nur 80 Kilometer entfernten Bukarest, mit um 1900 mehr als 14.000 deutschstämmigen Einwohnern, wäre den Canettis sogar die Auswahl unter mehreren Zeitungen möglich gewesen. Vermutlich hätten sie sich hier für das habsburgtreue und antirussische Bukarester Tagblatt entschieden, das seit 1880 mit sechs Ausgaben pro Woche in Bukarest erschien.

So wie in Bukarest und Sofia gab es im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert an vielen Orten des östlichen Europas Wochen- und später Tageszeitungen in deutscher Sprache. Einige wenige wie die St. Petersburgische Zeitung (1727-1915) oder die Mitausche Zeitung (1766-1916) aus dem baltischen Mitau/ Jelgava reichen bis weit ins 18. Jahrhundert zurück. All diese Zeitungen eröffnen einen Zugang zu einem Kultur- und Kommunikationsraum, in dem die deutsche Sprache über Jahrhunderte eine wesentliche Rolle gespielt hat. Es ist bezeichnend für die Bedeutung dieses Raumes, dass die St. Petersburgische Zeitung nur zwei Generationen später als die erste binnendeutsche gedruckte Tageszeitung, die Leipziger Zeitung von 1660, erschien. Während die jüngere Generation in Deutschland das östliche Europa vor allem unter den Vorzeichen von Krieg, Holocaust, Flucht und Vertreibung kennengelernt hat, erinnert seine deutschsprachige Zeitungslandschaft nun an eine andere, friedlichere, nach 1945 jedoch untergegangene Welt.

Einen ersten Überblick über die deutschsprachige Zeitungslandschaft des östlichen Europas gibt der 2005 erschienene Sammelband „Deutschsprachige Zeitungen in Mittel- und Osteuropa“.3 Auf der ihm vorausgegangenen Tagung in Schloß Rauischholzhausen wurde deutlich, dass zwar einerseits für viele Regionen, Städte und einzelne Zeitungen ausgewiesene Experten in den jeweiligen Ländern zu finden sind und dass auch von deutscher Seite bereits wichtige Vorarbeiten geleistet wurden. Andererseits blieb aber unverkennbar, dass ein Gesamtüberblick über die deutschsprachigen Zeitungen des östlichen Europas noch nicht möglich und beim damaligen Forschungsstand auch nicht zu leisten war.

Der hier mit einem ersten Teilband vorgelegte Katalog will nun einen Beitrag zur Erschließung dieser Presselandschaft leisten. Dazu gehören die möglichst vollständige Erfassung aller deutschsprachigen Zeitungen, ihre Beschreibung und die Bereitstellung von Hinweisen zu ihrer künftigen geschichts-, kultur-, sprach- und literaturwissenschaftlichen Auswertung. Als geographischer Rahmen gilt das europäische Gebiet östlich der heutigen deutschen Grenzen. Diese Festlegung fasst zwar in historischer Perspektive ganz unterschiedliche Regionen zusammen, in denen das Deutsche mal Mehrheits- und mal Minderheitensprache, mal innerhalb des deutschen Sprachkontinuums und mal Sprachinsel war. Aus heutiger Sicht umspannt der Katalog damit ein Territorium, dessen deutschsprachige Traditionen einer jüngeren Generation davon unabhängig oft nur noch vage bekannt sind. Die Orientierung an heutigen Landesgrenzen hat zur Folge, dass die deutschsprachigen Zeitungen etwa Königsbergs daher nun im Länderteil „Russland“ verzeichnet sind, insgesamt erleichtert sie aber die Systematik und die Auffindbarkeit der Zeitungen stark. In inhaltlicher Hinsicht folgt die räumliche Festlegung damit zugleich den von Siegfried Tornow entwickelten historischen Kriterien.4

Im Zuge der Bestandserfassung konnten bisher für den Zeitraum bis 1945 knapp 2.900 deutschsprachige Zeitungen in den folgenden Ländern ermittelt werden: Bulgarien, Estland, Georgien, Kroatien, Lettland, Litauen, Montenegro, Polen, Rumänien, Russland, Serbien, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ukraine, Ungarn und Weißrussland. Diese selbst für Kenner erstaunlich hohe Zahl konnte in arbeitsökonomischer Hinsicht nicht ohne Folgen bleiben. Es wurde daher zunächst eine Datenbank errichtet, in der alle verfügbaren Hinweise zu allen ermittelten Zeitungen gespeichert werden. Um die Quellengruppe einem größeren Publikum bekannt zu machen, wurde dann ein Katalog vorbereitet, für den 230 Zeitungen ausgewählt und beschrieben werden. Am Beispiel dieser Zeitungsbiographien und -bibliographien scheint es am ehesten möglich, in einem angemessenen Zeitraum ein exemplarisches Bild von der deutschsprachigen Zeitungslandschaft zwischen Polen und Georgien zu vermitteln.

Der nun vorliegende erste Teilband enthält die Länder Estland, Kroatien, Lettland, Litauen, Montenegro, Russland, Serbien, Slowakei und Slowenien. Die übrigen Länder folgen in einem zweiten Teilband. Den Kapiteln sind jeweils kurze Abschnitte zur deutschen Siedlungs-, Sprach- und Mediengeschichte vorangestellt. Maßgeblich für die Aufnahme in den Katalog waren die Kriterien „Länge ihres Erscheinungsverlaufs“, „Erscheinungsbeginn“, „inhaltlich(-politische) Ausrichtung“, „Bedeutung des Erscheinungsortes“, „Bedeutung ihrer Mitarbeiter“ und „Potential für weitere Forschungen“. Um eine insgesamt repräsentative Auswahl zu ermöglichen, werden darüber hinaus auch einzelne eher kurzlebige und weniger bekannte Zeitungen aufgenommen, zumal sie gleichwohl in kultur- und sprachgeschichtlicher Sicht bedeutend sein können. Über die Angaben zu Titeln, Beilagen, Verlagsorten, Herausgebern, Redakteure, Erscheinungszeiträumen, Periodizität und Auflage hinaus wurde deshalb versucht, eine Charakteristik einer jeden Zeitung zu erstellen, die vor allem dann kommentiert wird, wenn die Angaben wegen der oftmals unzureichenden Forschungslage noch nicht eindeutig gesichert werden konnten. Nach Möglichkeit wurden zudem Hinweise auf heutige Aufbewahrungsorte und Reproduktionen sowie aktuelle Digitalisierungsvorhaben ergänzt. Zur Illustration wird den Katalogangaben pro Zeitung mindestens eine Abbildung zur Seite gestellt. Aus konservatorischen Gründen war es nicht immer wie geplant möglich, das Titelblatt der Erstausgabe abzubilden. Die jetzige Auswahl ergibt umso mehr einen repräsentativen Überblick.

Aufgenommen wurden auch – wo immer dies ermittelt werden konnte – Hinweise auf die Rezeption der Zeitungen in zeitgenössischen binnendeutschen Publikationen. Erwähnt sei hier etwa die Agramer politische Zeitung, die zuerst mit der Ausgabe vom 3.6.1831 mit einer Meldung „von der bosnischen Gränze“ am 29.6.1831, und dann wiederholt, in der Münchener Politischen Zeitung zitiert wird. In einer literatur-, sprach- und kulturgeschichtlichen Perspektive reizvoll sind zudem die Hinweise auf solche Mitarbeiter und gelegentliche Beiträger einer Zeitung, die als Schriftsteller regionale oder überregionale Bedeutung erlangt haben. Einen Sonderfall bezeichnen hier die im zweiten Katalogteil enthaltenen Hinweise auf den Kritiker Alfred Kerr, dessen „Briefe aus der Reichshauptstadt“ für die Breslauer Zeitung von 1895 bis 1900 in gekürzter Form bereits separat publiziert wurden.5 Darüber hinaus schreibt Kerr von 1897 bis 1922 auch für die Königsberger Allgemeine Zeitung „Berliner Plauderbriefe“. „Wiener Briefe“ veröffentlicht dagegen Karl Kraus 1897 in der Breslauer Zeitung, Egon Erwin Kisch publiziert 1906 im Prager Tagblatt, von 1906 bis 1913 auch in der Prager Tageszeitung Bohemia. Für beide Zeitungen arbeitete auch Johannes Urzidil. In der schon genannten Bulgarischen Handelszeitung in Sofia und auch als Korrespondent für den Pester Lloyd schrieb während des ersten Weltkrieges der Wiener Journalist und Schriftsteller Oskar Rosenfeld, der heute vor allem als Mitverfasser der „Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt“ bekannt ist.6 Der nun vorliegende erste Teilband des Katalogs enthält u.a. Hinweise auf Andreas Ascharin (St. Peterburger Zeitung, St. Petersburger Herold), Johann Georg Hamann (Mitausche Zeitung, auch Königsbergsche Gelehrte und Politische Zeitung), Johann Gottfried Herder (Rigische Anzeigen), Alma Karlin (Cillier Zeitung), August von Kotzebue (Königsberger Hartungsche Zeitung), Anna Wambrechtsamer (Cillier Zeitung) und Ernst Wichert (Königsberger Hartungsche Zeitung).

Die jetzige Form der Veröffentlichung als „Online-Katalog“ ermöglicht in dieser und allen weiteren Rubriken die fortlaufende Einarbeitung von Korrekturen und Ergänzungen, die von den Bearbeitern dankbar aufgenommen werden. Zu seiner Fertigstellung haben neben Tina Theobald mehrere Mitarbeiterinnen und Hilfskräfte beigetragen, unser besonderer Dank gilt Uta Fröhlich (jetzt Berlin) und Cornelia Wiedemann. Seine Herstellung wurde ermöglicht durch eine großzügige finanzielle Förderung des Bundesministeriums für Kultur und Medien. Frau Romy Ruhnke gilt unser herzlicher Dank für die sachkundige Begleitung unseres Vorhabens. Frau Prof. Roswitha Wisniewski hat zudem wesentliche Anregungen zur konzeptionellen Gestaltung des Forschungsvorhabens gegeben. Die Fortsetzung des Katalogs erfolgt im Rahmen des Heidelberg-Mannheimer „Europäischen Zentrums für Sprachwissenschaften“ (EZS).

 

1 Elias Canetti, Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Frankfurt a.M.: Fischer 2004, S. 37f.

2 Penka Angelova: Die Geburtsstadt von Elias Canetti. In: Elias Canetti: Der Ohrenzeuge des Jahrhunderts. Internationale Elias-Canetti-Gesellschaft Rousse 2006.

3 Jörg Riecke/ Britt-Marie Schuster (Hg.): Deutschsprachige Zeitungen in Mittel- und Osteuropa. Sprachliche Gestaltung, historische Einbettung und kulturelle Traditionen. Berlin: Weidler 2005.

4 Siegfried Tornow: Was ist Osteuropa? Handbuch zur osteuropäischen Text- und Sozialgeschichte von der Spätantike bis zum Nationalstaat. Wiesbaden: Harrassowitz 2005.

5 Alfred Kerr: Wo liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt 1895-1900, hg. v. Günther Rühle. Berlin: Aufbau-Verlag 1997.

6 Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt, 5 Bde., hg. v. Sascha Feuchert/ Erwin Leibfried/ Jörg Riecke. Göttingen: Wallstein, 2007.

 

 

Jörg Riecke und Tina Theobald

Deutschsprachige Zeitungen im östlichen Europa. Katalog (Heidelberg 2012)

 

 

 
Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen:

Wissenschaftliche Hilfskräfte:

Uta Fröhlich (2009-2010)

Melanie Melchior (2009-2010)

Dr. Tina Theobald (seit 2008) Cornelia Wiedemann (seit 2010)

 

 

Letzte Änderung: 26.11.2017
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